Die Unicorn Fata Morgana

von Jesse Jeng – Managing Partner bei SCALEHOUSE Capital

Wegen der glühenden Hitze sehen Wüstenreisende oft Trugbilder, die zum Beispiel eine nahe Oase vorgaukeln. Diese Trugbilder nennt man Fata Morgana. Sie entstehen durch Luftspiegelung, wenn sich Luftschichten in sehr flachen und heißen Gebieten überlagern.

Über viele Jahre kannten die Bewertungen von Startups fast ohne Unterbrechung nur eine Richtung. Genau wie das Gesamtvolumen der Investitionen durch Risikokapitalunternehmen (Venture Capital) in Startups ging es von einem Rekord zum nächsten:

Global Venture Dollar Volume 2021 to 2021

Dieser beispiellose Boom wurde u.a. von folgenden drei Gewissheiten getragen:

  1. Technologie disruptiert nahezu jeden Bereich der Wirtschaft und setzt damit klassische Bewertungsmaßstäbe außer Kraft.
  2. Wir stehen vor einem Zeitalter niedriger Inflation, womöglich sogar Deflation, weil Technologie die Kosten bestehender Produkte und Dienstleistungen radikal senkt.
  3. Zu Startups, über beinahe alle Geschäftsmodelle hinweg, gehört grundsätzlich das unerbittliche Verbrennen von Finanzmitteln zur Erreichung einer marktbeherrschenden Stellung, die unweigerlich zu wirtschaftlichem Erfolg für Investoren führt.

Jede dieser Gewissheiten wurde mit einer Reihe von Beispielen börsennotierter und privat finanzierter Startups und Scaleups unterlegt. 

Und dennoch zeigten sich kurz nach der Ankündigung der amerikanischen Notenbank Fed die Zinsen anzuheben, als Folge ansteigender Inflationsraten erste Zeichen eines Bewusstseinswandels:

Heute wissen wir, dass die großen Tech-Executives (und viele Verkäufer, die nicht in der medialen Berichterstattung vorkamen) etwas wussten, was der Gesamtmarkt nicht erkannte:

Die Zinswende leitete die Rückkehr zu klassischen Prinzipien der Marktwirtschaft und Unternehmensanalyse ein.

Zinsanstieg

Tech-Bewertungen (NASDAQ)

In der Folge brachen die Bewertungen von Technologieunternehmen zwischen Dezember 2021 und Oktober 2022 um 35% ein. In Tech-Indizes sind jedoch Unternehmen wie Microsoft, Apple und Alphabet (ex-Google) enthalten, die alles in allem wertstabiler als der Rest der Tech-Aktien performed haben. Würde man ausschließlich auf Aktien schauen, die kürzlich an die Börse gegangen sind, würde man auf Wertreduzierungen von 50-80% stoßen.

Die Entwicklung, die die Börsen vorweggenommen haben, ist inzwischen mit großer Härte im Bereich der Startups angekommen:

Investitionsaktivität Venture Capital

Risikokapitalfinanzierungen Q3 2022 rund 81 Milliarden US-Dollar
Rückgang um 90 Milliarden US-Dollar (53%) im Jahresvergleich

Ist die Party nun vorbei?

Venture Capital Magazin, 30.09.2022

Gestiegene Zinsen bringen gleich mehrere Faktoren mit sich, die den Wert risikoreicher Anlagen, wie Startups, vermindern:

  1. Unternehmen werden höhere Finanzierungskosten bezahlen müssen. Ihre finanzierenden Banken müssen ihrerseits bei den Notenbanken, die die Zinsen festlegen, sowie bei Ihren Investoren höhere Zinsen zahlen. Diese geben Sie an die kreditaufnehmenden Unternehmen weiter. 
  2. Investoren im Allgemeinen können mit alternativen Anlagen zu Startups, zum Beispiel festverzinslichen Wertpapieren, unter Inkaufnahme deutlich geringeren Risikos, wieder Geld verdienen. Daher muss der Investor eines Startups eine mindestens um den Faktor der Alternativ-Anlage erhöhte Rendite erzielen, damit es sich weiterhin für Investoren lohnt.
  3. Die steigenden Finanzierungskosten erhöhen die Kosten des typisch gewordenen verlustreichen Wirtschaftens der Startups und erhöhen damit, je nach Geschäftsmodell, das Insolvenzrisiko.
  4. Daher senkt jede Erhöhung des mittel- bis langfristigen Zinsniveaus den Unternehmenswert risikoreicher Startups!

Die Reduzierung der Investitionen von Risikokapitalfonds in Startups führen kontinuierlich zu niedrigeren Bewertungen und einem stärkeren Hinterfragen von Annahmen und Geschäftsmodellen. Für Startups und Gründer mit unsoliden Geschäftsmodellen oder mangelnder Erkenntnisfähigkeit über die Änderung des Finanzierungsumfeldes ist die Situation brandgefährlich. So häufen sich die Insolvenzen im Startup-Bereich. Downrounds, also die Reduzierung von Unternehmenswerten in aufeinanderfolgenden Finanzierungsrunden, sind an der Tagesordnung. Dabei sind Reduktionen um mehr als die Hälfte, auch bei Vorzeige Startups wie Klarna (über 80%), keine Seltenheit. 

Klarna nur noch mit 6,5 Milliarden Euro bewertet.

Manager Magazin, 02.07.2022

Doch wie konnte es dazu kommen?

Bereits im Jahr 1960 trug der Wissenschaftler und Psychologe Peter Wason dazu bei, die Mär vom stets rational denkenden Menschen ins Wanken zu bringen. Stattdessen stellte Wason eine ganze Reihe von Verzerrungen im Denken wahr, von denen der berühmteste sicherlich der Bestätigungsfehler ist:

Der Bestätigungsfehler bezeichnet die Neigung, Informationen so auszuwählen und zu interpretieren, dass sie die eigenen Erwartungen bestätigen. 

Wenn wir also der Auffassung sind, dass aufgrund des disruptiven Elements von Technologie die evidenzbasierten Methoden der Unternehmensbewertung nicht mehr gelten, werden wir uns Informationen suchen, die diese Auffassung bestätigen. So bezahlten Manager von Risikokapitalfonds womöglich das 100fache des Umsatzes als Unternehmensbewertung in einer Finanzierungsrunde. Basis dieser Entscheidung waren Finanzmodelle mit hanebüchenen wirtschaftlichen Annahmen, die keinerlei Bezug zur wirtschaftlichen Realität hatten. 

Wichtig für unsere Schlussfolgerung – die Verfügbarkeitsverzerrung:

Ein Urteilsfehler, bei dem die Wahrscheinlichkeit für den Eintritt eines Ereignisses umso höher eingeschätzt wird, je mehr kürzlich eingetretene Beispiele für ein solches Ereignis uns einfallen. So ist die Wahrnehmung für den Eintritt eines Terroranschlages am Tag eines solchen höher als zuvor, obwohl ein Terroranschlag allein die statistische Eintrittswahrscheinlichkeit eines Anschlages nicht erhöht.

Da die Inflation nun über 10 Jahre nahezu 0% betragen hat gab es keinen Grund davon auszugehen, dass sich das jemals ändert. Oder?

So bezahlen Manager von Risikokapitalfonds womöglich das 100fache des Umsatzes als Unternehmensbewertung, weil jener andere vielbewunderte Manager noch vor einem halben Jahr einen erfolgreichen Verkauf seiner Unternehmensanteile an der Börse realisiert hat und zuvor eine ganz ähnliche Bewertung gezahlt hatte. 

Dieses Beispiel führt zur wichtigsten, meiner Lieblingsverzerrung:

Bis zu seiner Schlachtung wird der Truthahn jeden Tag gefüttert und umsorgt. Mit jeder Fütterung steigt seine Gewissheit bzw. sein Vertrauen darauf, dass ihm nichts passiert, basierend auf den Erfahrungen aus der Vergangenheit. Aus Sicht des Truthahns ist ausgerechnet am Abend vor seinem Tod die Gewissheit, dass er am nächsten Tag auch wieder gefüttert und umsorgt wird, am größten. Trotzdem wird er an dem Tag geschlachtet, genau von jener Person, die ihn umsorgte.

Wikipedia

Die Truthahn-Illusion beschreibt die Schwierigkeit, Trendbrüche im Zeitablauf zu erkennen. 

So bezahlen Manager von Risikokapitalfonds womöglich das 100fache des Umsatzes als Bewertung eines Startups, weil dieses Investitionsmodell schließlich in den vergangenen Jahren erfolgreiche Exit-Ergebnisse mit sich gebracht haben.

Doch scheinbar überraschende Trendbrüche, wie die Reduzierung von Unternehmenswerten als Folge einer Zinserhöhung, sind vorhersehbar, wenn man die Ursachen bzw. die Rahmenbedingungen für diesen Trend kennt.

Doch was bleibt dann von unseren drei Gewissheiten? Gewissheit Nummer 2, von der dauerhaft niedrigen Inflation, hat sich nicht bestätigt. Dies obwohl der technologische Fortschritt zweifellos deflationäre Tendenzen mit sich gebracht hat.

Gewissheit Nummer 3 war in ihrer Verabsolutierung sicher immer falsch. Die Überhöhung vom „Verbrennen“ von Investorengeldern, das bestätigen zahlreiche Insolvenzen von ebensolchen Startups, war eine Folge des Booms. In vielen Fällen benötigen Startups die Finanzierung von Liquiditätsunterdeckungen. Hierbei darf das Ziel eines gedeihenden, cash-flow positiven Unternehmens jedoch nie aus den Augen verloren werden. Unter Berücksichtigung dieses Umstandes ist es gerade die Aufgabe von Risikokapital Liquiditätsbedürfnisse von Startups zu vorzufinanzieren.

Gewissheit Nummer 1, von der fortgesetzten technologischen Disruption die Wirtschaftszweige verändert und klassische Bewertungsmaßstäbe außer Kraft setzt, hat sich über Boom- und Absturzzyklen bewahrheitet. Einige der erfolgreichsten Startups wurden in Krisenphasen gegründet. Für diese aussichtsreichen Startups kann auch heute kein aktuelles „Kurs-Gewinn-Verhältnis“ und kein aktueller „EBITDA-Multiple“ Grundlage für die Bewertung sein. Diese Gewissheit ersetzt jedoch nicht eine rigorose Analyse der Annahmen des Geschäftsmodells und eine dem anschließende individuelle Bewertung.

Die zuvor beschriebenen Gewissheiten haben oder hatten, jede für sich genommen und bezogen auf die richtigen Umstände, das richtige Geschäftsmodell und die richtige Industrie ihre Berechtigung. Doch die Überhöhung dieser Gewissheiten zu Glaubenssätzen ersetzt keinen rigorosen Investmentprozess.

Daher ist es gut, dass sich die Unicorn Fata Morgana langsam lichtet. Die erfolgreichsten Venture Capital Fonds der letzten 20 Jahre begannen nach der großen Finanzkrise im Jahr 2009 zu investieren. In einer Zeit in der sich die Bewertungen für Startups wieder auf ein fundamental gesundes Maß reduziert hatten. Daher ist genau jetzt die Zeit für Venture Capital die Ärmel hochzukrempeln, um starke Gründerinnen und Gründer dabei zu unterstützen mit starken Geschäftsmodellen und gesunden Bewertungen die Welt zu erobern!

Das ist unser Fokus bei SCALEHOUSE Capital!­­­