Generative KI und die Zukunft des Dienstleistungssektors

Update Februar 2025

Jesse Jeng
Founding & Managing Partner, SCALEHOUSE Capital

Rückblick auf auf die Thesen aus August 2024

Im August 2024 habe ich einen Artikel mit dem Titel „Generative KI und die Zukunft von Software-Startups. Chancen und Herausforderungen aus Sicht des VC-Investors“ veröffentlicht. Darin habe ich insbesondere die These vertreten, dass generative KI nicht zu einem Preisverfall und einer Margenerosion im Softwaremarkt führt, sondern vielmehr neue Wachstumsmöglichkeiten schafft.

Ich betonte damals:

 

    1. Kostensenkung als Wachstumsmotor: Wenn Softwareprodukte dank KI effizienter entwickelt und betrieben werden, können Unternehmen wettbewerbsfähigere Preise anbieten und dennoch profitabel bleiben. Dadurch erschließen sie zugleich Kundengruppen, die sich Softwarelösungen zuvor nicht leisten konnten – ein Marktexpansionseffekt.
    2. Höherer „Share of Wallet“: Durch KI-gestützte Zusatzfunktionen (etwa automatisierte Services oder Beratungsmodule) erhöhen Softwareanbieter ihren Wert pro Kunde. Statt bloßer Lizenzgebühren können sie zusätzliche Budgets erschließen, die zuvor an externe Dienstleister oder interne Abteilungen gingen.
    3. Automatisierung vormals personalintensiver Dienste: Bereiche wie Rechtsberatung, Texterstellung, Callcenter-Dienste und andere wissensintensive Services sind reif für KI-basierte Softwarelösungen. So ergeben sich völlig neue Märkte für Startups, die klassische Dienstleister ablösen oder ergänzen.

 

Erste Erfolgsgeschichten: Schon 2024 konnte ich auf Beispiele wie VoiceLine verweisen, die genau diesen Trend illustrierten. Sie vereinfachen durch generative KI die Dokumentations- und Kommunikationsprozesse im Außendienst – ein ehemals sehr arbeitsintensiver Service, der nun weitgehend automatisiert wird.

Diese Thesen sind heute, ein halbes Jahr später, aktueller denn je. Tatsächlich hat sich die Entwicklung noch schneller und noch umfassender vollzogen, als ich damals prognostiziert habe. Unternehmen auf der ganzen Welt, darunter auch unsere Portfoliounternehmen, zeigen, wie “Vertical AI Agents“ (Vertikale Künstliche Intelligenz Agenten) große Teile des Dienstleistungssektors neu definieren.

Die globale Dienstleistungswirtschaft: Größe und Segmente

Um zu verstehen, warum Vertical AI Agents so disruptiv wirken, lohnt ein Blick auf das Gesamtvolumen der Dienstleistungsökonomie. Nach Angaben der WTO entfallen rund zwei Drittel des globalen Bruttoinlandsprodukts auf Dienstleistungen. Das heißt, von etwa 100 Billionen USD Welt-BIP stammen 65–70 Billionen USD aus dem Dienstleistungssektor. Dieser weite Bereich umfasst Branchen wie Finanzen, Versicherungen, Recht, Beratung, Bildung, Handel, Transport, Tourismus und viele mehr.

Nicht alle dieser Segmente lassen sich gleichermaßen durch KI transformieren – Personennähe, handwerkliche oder pflegerische Tätigkeiten bleiben auch in Zukunft überwiegend menschlich. Doch überall dort, wo wissensintensive, standardisierbare Abläufe anfallen, ergeben sich oft massive Automatisierungsmöglichkeiten. Schauen wir uns die wichtigsten Segmente an:

 

    1. Professionelle Dienstleistungen (Recht und Buchhaltung): Global über 1 Billion USD für juristische Leistungen (2024) und rund 600 Mrd. USD für Buchhaltungs- und Rechnungswesen (2022). Die Arbeit in diesen Bereichen beinhaltet viele repetitive Prozesse (Vertragsprüfung, Aktenanalyse, Datenerfassung), die sich durch KI-Tools automatisieren lassen. Bereits 2023 haben Übernahmen wie Thomson Reuters’ Kauf von CaseText (650 Mio. USD) oder DocuSigns Akquisition von Lexion (165 Mio. USD) gezeigt, dass große Player bereit sind, stark in KI-Lösungen zu investieren, um ihren Serviceumfang zu erweitern.
    2. Finanz- und Versicherungsdienstleistungen: Ob Banking, Versicherungen oder Steuerberatung – hier dreht sich viel um Informationsverarbeitung. Allein der Accounting-as-a-Service–Bereich ist mehrere Hundert Milliarden USD schwer. KI-Systeme für Schadenserfassung, Policenprüfung oder Compliance läuten bereits eine neue Ära ein. Das Potenzial ist riesig: Die weltweiten Versicherungsprämien liegen bei etwa 2,8 Billionen USD (2022), und allein in der Verwaltung können KI-Agenten Milliarden einsparen.
    3. Business Process Outsourcing (BPO) & Call-Center: Dieser Markt lag 2024 bei über 300 Mrd. USD und dürfte bis 2030 auf über 525 Mrd. USD wachsen. Jede Unterkategorie – ob Kundenservice, Datenverarbeitung, IT-Support oder Personalservices – ist durch repetitive Prozesse geprägt und damit ein idealer Kandidat für KI-Disruption. Ein einzelner KI-Agent kann das Pensum eines ganzen Teams übernehmen und in kürzester Zeit bearbeiten.
    4. Gesundheitswesen (administrative Leistungen): Während die medizinische Versorgung selbst viel Empathie und menschliches Fachwissen erfordert, entfallen geschätzt 300 Mrd. USD jährlich auf Verwaltung und Abrechnung im US-Gesundheitsmarkt. Hier können KI-Agenten enorm entlasten (z.B. automatisierte Arztbrief-Erstellung, Kodierung für Abrechnungen). Global betrachtet geht es um einen 8‑Billionen‑USD-Markt, in dem KI erst am Anfang steht – Kliniken und Versicherer testen bereits umfassende Lösungen.
    5. Bildung und Beratung: Über 5 Billionen USD werden weltweit für Bildung ausgegeben. KI-basierte Lernsysteme oder Tutor-Agents könnten langfristig viel von der bisher personalintensiven Wissensvermittlung übernehmen. Beratungsdienstleistungen in Billionenhöhe (Management, IT-Consulting etc.) werden automatisierbare Reporting- und Analyseaufgaben an KI auslagern.

 

Insgesamt entsteht so ein Bild, in dem KI-Agenten Hunderte Milliarden bis mehrere Billionen USD potenzieller Marktanteile für sich beanspruchen können. Der Markt für Software as a Service (SaaS) Unternehmen liegt weltweit ca. bei 550 Mrd. USD, während der Markt für speziellere Vertikale SaaS bei ca. 150 Mrd. USD liegt. Bessemer Venture Partners schätzt, dass Vertical AI insgesamt den Markt um den Faktor 10 gegenüber klassischem Vertical Software/SaaS vergrößern könnte, denn KI-Lösungen ersetzen nicht nur Softwarelizenzen, sondern gleich ganze Personalkosten. Einige Experten sprechen bereits von einer potenziellen “Trillion Dollar Opportunity“ und ziehen Parallelen zur SaaS-Revolution – nur in noch größerem Maßstab.

Unsere Portfolio-Startups: Beispiele für Vertical AI Agents in Aktion

MICE Desk – KI-Outsourcing für das MICE-Geschäft

Mit MICE Desk konnten wir bei SCALEHOUSE Capital 2024 ein Startup unterstützen, das Hotels bei der Abwicklung von Veranstaltungs- und Gruppenanfragen unterstützt. Die Technologie verbindet sich direkt mit den Hotel-Management-Systemen (PMS) und automatisiert die Bearbeitung von Kundenanfragen im MICE-Bereich (Meetings, Incentives, Conventions, Events). Dort, wo früher tagelang händisch kalkuliert und verhandelt wurde, übernehmen jetzt ein vertikale KI-Prozesse, die in Sekundenschnelle Angebote erstellt und – bei Bedarf – personalisiert. Die Personalkosten pro Vorgang sinken; Hotels verlieren keine Anfragen mehr wegen mangelnder Kapazität im Veranstaltungsverkauf. Auch die Qualität steigt, weil die KI die gesamte Preis- und Auslastungs-Historie kennt und Angebote zuverlässig optimiert.

VoiceLine – KI-Betriebssystem für den Außendienst

Ebenfalls schon im August 2024 berichtete ich von VoiceLine, das wir bei SCALEHOUSE finanziert haben. VoiceLine hat für Vertriebsorganisationen einen KI-Assistenten entwickelt, der den Dokumentationsaufwand im Außendienst minimiert. Jede Gesprächsnotiz, jeder Kundenbesuch wird von der KI festgehalten und automatisch in CRM-Systemen archiviert. Außendienstler sparen täglich Stunden, die sie sonst mit Berichten und E-Mail-Schreiben verbracht hätten. Seitdem ich das 2024 erwähnte, hat sich VoiceLine rasant weiterentwickelt: Das Startup vermeldet aktuell monatlich zweistellige Wachstumsraten und integriert zusätzliche KI-Features, die dem Vertrieb konkrete Handlungsempfehlungen geben. Damit wandelt sich das „Telefon-Aufzeichnungs-Tool“ hin zu einem End-to-End-Vertriebs-Betriebssystem – ein Lehrbuchbeispiel für Vertical AI, das eine bislang zeitfressende Dienstleistung (Vertriebsdokumentation) in skalierbare Software überführt.

Locaboo – Von kommunalen Ressourcen zur automatisierten Verwaltungsarbeit

Locaboo begann als Cloud-Plattform, um kommunale Ressourcen (Sporthallen, Bürgersäle etc.) digital buchbar zu machen. Doch der eigentliche Durchbruch bahnt sich jetzt an, wo Locaboo mithilfe generativer KI den kompletten Verwaltungsprozess im Hintergrund automatisieren will. Dank bereits großer Kundenbasis (mehrere hundert Kommunen) kann Locaboo seine Vertical AI Agenten im kommunalen Umfeld schnell ausrollen. Derzeit verhandeln sie bereits mit großen Kommunen: Sie planen, die Preise für die KI-gestützten Services ins Verhältnis der Lohnkosten eines durchschnittlichen Verwaltungsmitarbeiters zu setzen. Das verdeutlicht das enorme Kostensenkungspotenzial durch KI und untermauert meine These, dass Städte und Gemeinden großes Interesse daran haben, ihre personellen Engpässe mithilfe von Software zu lösen. Hier sehen wir, wie Locaboo direkt auf Personalkosten zielt, nicht nur auf Software-Etats – ein klarer Hinweis auf einen weit größeren Markt als zuvor.

Aktuelle Einschätzungen führender amerikanischer VC’s

Inzwischen haben sich führende amerikanische VC-Investoren wie a16z, Sequoia und Khosla Ventures ebenfalls zunehmend optimistisch zu Vertical AI geäußert:

Andreessen Horowitz (a16z): Im September und Dezember 2024 veröffentlichte a16z mehrere Analysen, in denen sie das Konzept einer „dritten Welle“ von Vertical SaaS beschrieben: KI-betriebene Software, die nicht nur Daten verwaltet, sondern tatsächlich Menschenarbeit ersetzt. Sie verweisen auf Beispiele von KI-Lösungen für Callcenter, Versicherungen und Buchhaltung, die teilweise den Umsatz pro Kunde um das 10‑fache steigern können, weil sie deutlich mehr Arbeitsschritte digital abbilden.

Sequoia Capital: Bereits Ende 2023 begann Sequoia massiv in AI-Startups zu investieren. Spätestens Oktober 2024 hoben sie in einem Blogbeitrag hervor, wie rasch sich echte “agentische” KI-Anwendungen durchsetzen, die über bloße Chatbots hinausgehen und komplexe Workflows automatisieren. Auch hier: Die Rede ist von „Vertical AI Agents“, die branchenspezifisches Wissen in Software gießen.

Khosla Ventures: Im November 2024 sagte Vinod Khosla in einem VC-Roundtable, er sehe in Vertical AI eine Chance, die 10× so groß wie klassische SaaS sein könnte. Begründung: Statt nur „Software an Software-Budgets“ zu verkaufen, zapfen KI-Startups direkt das Personalkosten-Budget an. Das deckt sich exakt mit den Erfahrungen von Locaboo oder MICE Desk, die ihre KI-Lösungen nicht nach „Software-Preisen“ kalkulieren, sondern sich an eingesparten Lohnkosten orientieren.

Fazit: Dienstleistungsbranche 2025 – Am Beginn einer neuen Ära

Aus meiner Sicht hat sich damit die Kernthese des Artikels sogar noch verstärkt: Generative KI führt nicht zu einem Kollaps der Softwaremargen oder einer Marktsättigung, sondern erschließt neue Kundengruppen, neue Umsatzquellen und neue Märkte für Software-Startups. Gerade im Dienstleistungssektor sehen wir, wie ehemals manuelle, teils monotone Serviceprozesse schrittweise in Vertical AI Agents transformiert werden. Das steigert nicht nur die Effizienz, sondern vergrößert zugleich den Gesamtmarkt für digitale Lösungen.

 

    • Kostenersparnis: Kunden (Hotels, Kommunen, Konzerne etc.) zahlen gern an KI-Anbieter, weil dadurch teure Personalkosten oder Agenturleistungen entfallen. Man spricht von einer Win-Win-Situation – niedrigere Kosten für den Kunden und höhere Margen für den Softwareanbieter.
    • Skaleneffekte: KI-Agenten sind hochgradig skalierbar. Ist die einmalige Domänenexpertise trainiert, lassen sich tausende Kunden in unterschiedlichen Regionen bedienen, ohne linear mehr Personal einzustellen. Das eröffnet Software-Startups Wachstumschancen in einer neuen Größenordnung.
    • Neue Anwendungsfelder: Ob in Recht, Buchhaltung, Versicherungen, BPO/Callcentern oder im Gesundheitswesen – überall, wo Wissen digitalisierbar ist, ergeben sich gewaltige Automatisierungspotenziale. Geschätzt 65–70 Billionen USD globaler Wertschöpfung entfallen auf Dienstleistungen, und mehrere Billionen davon dürften über kurz oder lang von KI-Lösungen durchdrungen werden.
    • Beispiele aus dem Portfolio: MICE Desk, VoiceLine und Locaboo verdeutlichen, wie sich einzelne Branchenabschnitte (MICE-Bereich, Außendienst, kommunale Verwaltung) gezielt „softwarisieren“ lassen. Gerade Locaboo arbeitet aktuell an einer Pricing-Struktur, die sich direkt an den eingesparten Personalkosten misst. Das zeigt beispielhaft, wie sich Businessmodelle im Vertical-AI-Bereich weiterentwickeln: Sie greifen nicht nur auf Software-Budgets zu, sondern „fangen“ Personal- und Outsourcing-Kosten ab.

 

In Summe gehe ich fest davon aus, dass wir gerade erst den Anfang dieser Transformation erleben. In den kommenden Jahren werden Vertical AI Agents in immer mehr Segmenten Fuß fassen – mitunter beschleunigt durch regulatorische Anpassungen, neuen Großkunden-Adoptionen und steigenden Personalkosten. Für Startups bietet das eine einmalige Gelegenheit, sich nischenweise zu etablieren und dort unangefochtene Marktführer zu werden. Für uns als VC-Investoren ist es eine der spannendsten Entwicklungen der letzten Dekade.

Die Zukunft der Dienstleistungsindustrie ist digital, KI-getrieben und vertikal spezialisiert. Wer früh auf diesen Zug aufspringt, kann einen entscheidenden Beitrag zu einer effizienteren, vernetzten und zukunftsfähigen Dienstleistungswelt leisten.

 

www.scalehouse-capital.com